Christian weiß genau, wie sich Botanik und Zoologie voneinander unterscheiden: „Pflanzen können nicht weglaufen.“ Trotzdem glaubt er daran, dass sie sich bewegen können, allerdings nur, wenn es windig ist. Dass er heute eine der schnellsten Pflanzen der Welt untersuchen wird, die keinen Wind braucht, um ihre Blätter zu bewegen, ahnt der junge Forscher noch nicht.  Die Biologin Johanna Pareigis geht mit neun Jungen und einem Mädchen auf eine dreistündige Expedition durch den Neuen Botanischen Garten in Kiel. Die Forschungsreise führt die Vier- bis Neunjährigen durch die Wüste, den Dschungel und die Tropen. Doch bevor die Reise losgeht, will die Gruppe herausfinden, ob fleischfressende Pflanzen richtig zubeißen können.  „Ich mute Kindern bewusst Dinge zu, die für sie ungewohnt sind“, sagt Pareigis. So seziert sie mit ihnen regelmäßig Tintenfische, um die Tiere anschließend gemeinsam zu essen, philosophiert mit Kindern auf Friedhöfen über die Vergänglichkeit des Lebens und erforscht mit ihnen die Physik von Blasinstrumenten.  In ihren Weltwissen-Kursen arbeitet die Biologin fachübergreifend. Meeresbiologie und Ernährungswissenschaften, Kulturgeschichte und Botanik, Musik und Physik gehören zusammen. Abstraktes Wissen wird zu einer „Zu-Mutung“, die die jungen Forscher herausfordern soll. „Ich setze Kindern kein Bildungs-Fast-Food vor die Füße, sondern gebe ihnen ernsthaft was zu futtern.“  Im Sommer etwa experimentieren die Kinder mit Venusfliegenfallen. Sie sitzen auf einer Wiese und schauen fasziniert auf die fremden Pflanzen. Zunächst traut sich keiner, einen Finger zwischen die rosafarbenen Innenflächen der Fangblätter zu stecken.   „Fliegen stehen auf Rosa“, stellt der neunjährige Tibor erstaunt fest. Das will sich der sechsjährige Jost genauer ansehen. Mit seiner Lupe entdeckt er kleine Fühlborsten am Blattrand. „Kitzel die mal!“, fordert ihn der fünfjährige Michael auf. Pareigis, 44, gibt den Kindern Zeit, damit sie die Pflanze mit allen Sinnen erfassen können. Denn sie weiß aus eigener Erfahrung, dass Kinder neugierig sind und im Grunde kaum Berührungsängste haben. „In jedem von uns steckt ein Forscher", behauptet Pareigis. Als Einjährige habe sie ihre Finger bereits in einen Kuhfladen gesteckt, um ihn zu untersuchen.   Vorsichtig berührt Jost die Borsten mit der Spitze seines Zeigefingers. Das Blatt klappt sofort zu. Josts Finger ist noch dran. „Tut das weh?“, will die vierjährige Caroline wissen. „Nicht wirklich, es kribbelt nur ein bisschen", verrät Jost und lacht. Die Erfindung der Weltwissen-Kurse hat Pareigis ihren eigenen Kindern zu verdanken - der elfjährigen Laura, dem neunjährigen Viktor und dem siebenjährigen Jorin. Als die drei kleiner waren, erforschte sie mit ihnen an einem Kindertag pro Woche die Welt, meist unter freiem Himmel.  Dabei regte sie ihre Kinder gezielt zum Fragen und Erforschen an. Wo sind Quelle und Mündung eines Flusses? Wie fühlt sich eine Vogelspinne an? Wie sieht eine Jakobsmuschel von innen aus? „Wir hatten viel Freude am gemeinsamen Erleben und Entdecken, auch wenn der Aufwand meist recht hoch war“, erzählt Pareigis. Aus den Kindertagen entwickelte sie deshalb Weltwissen-Kurse für bis zu zwölf Kinder.   Im Innenhof des Botanischen Gartens angekommen, hat die Konzentration der jungen Forscher deutlich nachgelassen. Die erste Stunde des dreistündigen Kurses ist vorbei. „Ich hab Durst“, ruft der sechsjährige Friedrich. „Wann können wir uns endlich die Kakteen in der Wuste ansehen?“, fragt Christian und hüpft ungeduldig von einem Bein auf das andere.   Zeit für eine halbe Stunde Pause, in der die Kinder machen dürfen, was sie wollen - essen, trinken, ausruhen, herumtoben. Trotz dieser Freiheiten achtet Pareigis darauf, dass die jungen Forscher die Verhaltensregeln des Botanischen Gartens beachten und pünktlich wieder am vereinbarten Treffpunkt sind.   „Kinder brauchen verbindliche Absprachen, an die sich auch die Erwachsenen halten müssen“, sagt sie. Deshalb plane sie vor jedem Kurs genau, welche „Zu-Mutungen“ sie den Kindern anbiete, ohne dabei konkrete Lernziele festzulegen. „Verbindlichkeit ist für mich ein Stück Selbstdisziplin, ein lebenslang nötiger Schutzschild gegen spontane Anwandlungen von Unlust.“  Die meisten Kinder, die an Pareigis' Weltwissen-Kursen teilnehmen, sind im Vorschulalter und stammen aus der oberen Mittelschicht. Erwachsene sind meist nicht dabei. Für sie veranstaltet Pareigis Elternabende, an denen sie lernen, wie sie den Forscherdrang ihrer Kinder im Alltag fördern können.  „Kinder sind darauf angewiesen, dass Erwachsene ihnen das Forschen ermöglichen und sie an Orte fahren, an denen sie experimentieren können", erklärt Pareigis. Es sei wichtig, ihnen schon früh alltägliche Dinge wie Kartoffelschälen zuzutrauen. „Das Problem ist, dass viele Erwachsene nicht die Geduld dafür aufbringen, dass Kinder für bestimmte Dinge mehr Zeit brauchen, weil sie noch lernen.“   Dem fünfjährigen Jonas etwa vertraut die Biologin ihre Spiegelreflexkamera an, damit er die Expedition im Bild festhalten kann. „Kinder gehen meist sehr vorsichtig mit geliehenen Gegenständen um.“ Jonas ist stolz, dass er die Kamera um seinen Hals tragen darf und fotografiert fast alles, was ihm vor die Linse kommt.   „A-ga-ve si-sa-la-na“, liest der siebenjährige Jona kurze Zeit später auf einem Schild im wüstenartigen Amerika- und Afrikahaus. „Ist das ein Zauberspruch für Pflanzen?“ Er steht mit Jonas und der Biologin vor einer Sisal-Agave, aus der Seile hergestellt werden. „Die Forscher haben sich diesen lateinischen Namen ausgedacht", erklärt Pareigis den Kindern. „Aber wir sind doch die Forscher“, wundert sich Jonas und ist ein wenig enttäuscht, dass andere vor ihm sich bereits mit dieser Pflanze beschäftigt haben.   In Pareigis' Kursen ist es selbstverständlich, dass die Kinder auch lateinische Namen benutzen. Schließlich können sich fünfjährige Paläontologen schwierige Dinosauriernamen auch mühelos merken. Denn die Biologin ist davon überzeugt, dass ungewohnte Klänge die Phantasie anregen. „Neue Wörter bergen neue Ideen.“  Der Botanische Garten ist für die Kinder ein Sammelsurium aus klangvollen Wörtern. Sie fragen der Biologin Löcher in den Bauch. Wofür ist diese Pflanze gut? Ist dieser Kaktus gefährlich, weil davor ein rotes Schild steht? Pareigis erzählt den Kindern, dass man aus Bleistiftsträuchern einen Treibstoff fürs Auto gewinnen kann. Und dass man Kakteen mit roten Schildern am besten nicht anfasst, weil sie extrem giftig sein können. Dann fällt ihr noch etwas ein. „In der botanischen Fachsprache haben Kakteen übrigens keine Stacheln, sondern Dornen.“   Die Kinder sind zwischen den vielen interessanten Forschungsobjekten hin- und hergerissen. Kaum haben sie die Kakteen gesehen, stürmen sie weiter ins Viktoriahaus. Hier entdecken sie Amazonas-Seerosen, die so groß sind, dass sie einen 70 Kilogramm schweren Menschen tragen können.   „Wow“, staunt Jonas. Gleich darauf entdeckt Caroline das nächste Phänomen. „Guckt mal, die Pflanze hier funktioniert wie eine Luftmatratze“, ruft sie. Vorsichtig drückt sie eine Wasserhyazinthe mit ihrer Hand nach unten und beobachtet, wie schnell die Pflanze wieder auftaucht, als sie ihre Hand wegzieht.  Dank Pareigis' anleitenden „Hebammenfragen“ verstehen die Kinder plötzlich den Lotus-Effekt der Schwimmpflanze. Denn das Wasser perlt ab, als sei die Pflanze aus Gummi.   Im Dschungel lüften die Kinder dann das Geheimnis der „empfindsamen Schönen". Sie berühren die Mimose, ebenfalls eine der schnellsten Pflanzen der Welt. „Die sieht plötzlich wie verwelkt aus“, stellt der sechsjährige Max fest.  Am Ende der Expedition fordert Pareigis die Kinder auf, ihre Forscherbücher auszupacken, um ihre Beobachtungen mit dem Bleistift festzuhalten. Auf dem Tisch stehen Venusfliegenfallen und Kannenpflanzen. „Wenn Kinder zeichnen, sind sie gezwungen, genau hinzugucken“, sagt sie.   Die Forschungsbücher seien auch eine Kampfansage gegen die Kopiervorlagen in der Schule, die Kinder nicht ernst nähmen. Pareigis lasst sich die Zeichnungen von jedem Kind erklären. „Und was ist das hier?“ „Das ist der Eingang für die Insekten“, erläutert Jost.   Doch die Kinder zeichnen nicht nur, was sie sehen, sondern erschaffen auch phantasievolle Pflanzen auf dem Papier, die alles können, was sie bisher über Pflanzen gelernt haben. In manche Zeichnungen können die Kinder sogar hineinspringen – wie Mary Poppins. Pareigis stört das nicht. „Hauptsache, die Kinder halten ihre Erkenntnisse für sich fest, um sie später noch einmal nachlesen zu können.“   Doch das klappt nicht immer. Da Kinder stark in der Gegenwart leben, verschenken sie ihre Zeichnungen am liebsten sofort, anstatt sie in ihre Forscherbücher zu kleben. Denn nichts ist für die Ewigkeit, auch ihre Erkenntnisse nicht. „Naturwissenschaften werden mit dem Bleistift notiert, damit man radieren kann“, erklärt Pareigis, während die Kinder nach draußen laufen und zwischen den Pflanzenbeeten toben.   Zum Ausklang liest die Biologin ihnen noch eine Geschichte über die fleischfressende Pflanze Elisabite vor, die fast alles kann: Würstchen fressen, in den Po einer Putzfrau beißen und Einbrecher fassen. Nur eins kann sie nicht, nämlich weglaufen.  NICOLE SEROCKA
IN DER VENUSFLIEGENFALLE SPIEGEL SPECIAL 07/2008  Kinder sind geborene Forscher. Unbefangen hinterfragen sie alles, was ihnen in den Sinn kommt. Die Kieler Biologin Johanna Pareigis traut ihnen in ihren Weltwissen-Kursen deshalb Themen zu, die ungewohnt und herausfordernd sind.