Wie eine Treppe ragt das Gotteshaus mit den vertikalen Fensterschlitzen in den Himmel. Durch kreuzförmige Öffnungen fallen Sonnenstrahlen in das helle Kirchenschiff. Sie tanzen auf den Gesichtern der Frauen und Männer, die dicht aneinander gedrängt auf schmalen Holzbänken sitzen.  Wie jeden Sonntag ist die katholisch-chaldäische Johanneskirche in Södertälje bis auf die letzte Bank besetzt. Viele ältere Menschen wie der 60-jährige Mazin Noel sind bereits zwei Stunden vor Beginn der Messe in die Kirche gekommen, um einen der 200 Sitzplätze zu ergattern. Für Familien mit Kindern wird die Liturgie auf eine Leinwand im Keller übertragen, wo zusätzlich 50 Stühle aufgereiht sind.   Doch das reicht bei weitem nicht aus. Die meisten Chaldäer können nur im Stehen an der Messe teilnehmen. Fast anderthalb Stunden harren sie draußen vor der Kirche aus und versuchen, zumindest einen Teil der Liturgie zu hören. Externe Lautsprecher gibt es keine, dafür aber einen großen Schirm im Hinterhof, der notdürftig gegen Regen und Schnee schützt.   Die Kleinstadt Södertälje, rund 40 Kilometer südwestlich von Stockholm, hat seit Beginn des Irakkriegs mehr Christen aus dem Nahen Osten Zuflucht gewährt als die USA und Kanada zusammen. Denn Schweden ist weltweit für seine liberalen Asylgesetze bekannt. Bis Anfang des Jahres haben dort 75 Prozent der Iraker unbefristete Aufenthaltsgenehmigungen bekommen. Inzwischen liegt dieser Anteil nur noch bei 25 Prozent, das Land schließt allmählich seine Pforten.   Vertreter der katholischen Kirche forderten deshalb bei der EU-Innenministertagung in Brüssel eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge in Europa. Erzbischof Robert Zollitsch bot insbesondere der deutschen Regierung kirchliche Unterstützung bei der Aufnahme religiöser Minderheiten an. Sein Vorschlag ist jedoch bisher daran gescheitert, dass viele Politiker eine „bevorzugte Behandlung“ heimatlos gewordener Christen verweigern.   Da Flüchtlinge in Schweden selbst entscheiden dürfen, wo sie wohnen wollen, zogen im vergangen Jahr rund 1300 zumeist christliche Iraker in die Stadt am Mälarsee, die im Volksmund auch „Lilla Bagdad“ („Klein Bagdad“) genannt wird. Insgesamt leben dort über 30.000 eingewanderte Christen, darunter über 6000 Kriegsflüchtige: Chaldäer, Assyrer, Syrer und Armenier.  „Unsere katholisch-chaldäische Gemeinde ist mit 872 Familien neben der syrisch-orthodoxen Gemeinde eine der größten Glaubensgemeinschaften in Södertälje“, erklärt Noel. Partner und Kinder mitgerechnet, seien das rund 2600 Menschen. Der studierte Ingenieur ist mit seiner Familie von zehn Jahren aus der nordirakischen Stadt Mossul geflohen. „Da es für uns kein Zurück mehr gibt, ist der Bau einer geräumigeren Kirche unsere größte Hoffnung.“   Die Planungen dazu sind bereits in vollem Gange. Finanzielle Unterstützung für die 2,7 Millionen Euro teure Jungfrau-Maria-Kirche bekommen die Chaldäer vor allem vom Bistum Stockholm und dem Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken, das 310.000 Euro zur Verfügung stellt. Zudem hat das Diaspora-Kommissariat der deutschen Bischofskonferenz 458.000 Euro bewilligt. Da nach Angaben des Bistums Stockholm noch etwa 700.000 Euro fehlen, beginnt der Bau frühestens im Sommer 2009.  Samir Adwar sitzt in seinem kleinen Pfarrbüro und knetet seine Daumen. „Ich bin etwas nervös“, verrät der 41-Jährige auf Arabisch und versucht zu lächeln. Denn in einer halben Stunde wird er seine erste Messe in der Johanneskirche feiern.   Dem Iraker ist bewusst, dass die Gemeinde vor allem auf den Klang seiner Stimme achten wird. Denn große Teile der Liturgie werden auf Chaldäisch gesungen.   Als Nachfahren einer der ältesten christlichen Kirchengemeinden der Welt gehören die Chaldäer zu den Urchristen. Ihre Kirche ist mit dem Papst in Rom geeint. Gleichzeitig hat ihre ostsyrische Liturgie Riten eines altkirchlichen Katholikats bewahrt, die in den Westkirchen kaum noch eine Rolle spielen.   Zehn Minuten später ist die Kirche erfüllt von orientalisch anmutenden Chorälen. Adwar steht in goldenem Gewand hinter dem Altar. Von seiner Nervosität ist nichts mehr zu spüren. Sein Mienenspiel ist so feierlich, als sei bereits Weihnachten.   Als der mehrstimmige Gesang verklingt, eröffnet Adwar das Hochamt, indem er mit wohlklingender, ruhiger Stimme singt. Kurz darauf tritt ein alter Mann im Thuriferargewand vor den Altar und schwenkt sein Rauchfass, bis sich der würzige Duft von Weihrauch in alle Himmelrichtungen ausbreitet.   Nach dem Evangelium küsst Adwar die Bibel, reicht sie an einen Messdiener weiter und beginnt seine Predigt: „Wir haben unseren Glauben aus dem Irak mitgenommen, er ist tief in uns verwurzelt.“ Jetzt müsse die Gemeinde auf Gott vertrauen und nach vorne schauen. „Die neue Kirche wichtig für uns alle, damit wir unsere christlichen Traditionen bewahren können.“   Adwar nimmt seine neue Aufgabe sehr ernst. Insgesamt ist er für sieben Kirchen in der Umgebung von Södertälje zuständig. Im Anschluss an diese Messe wird er einen zweiten Gottesdienst im Stockholmer Stadtbezirk Skärholmen feiern.   Für Fragen rund um die neue Kirche gibt es ein Baukomitee, das aus dem Pfarrer und vier Chaldäern besteht. Adnan Yousef ist der Ansprechpartner für Spenden aus der Gemeinde. Dabei liegen dem 52-jährigen Lehrer vor allem die Kinder und Jugendlichen am Herzen, mit denen er täglich zu tun hat. „Wir brauchen dringend Räume zum Unterrichten.“   Damit die Chaldäer ihre neue Kirche möglichst schnell zur Katechese nutzen können, soll zunächst eine Halle für 800 Menschen und Unterrichtsräume für 250 Kinder und Jugendliche gebaut werden. Für zusätzliche 2,6 Millionen Euro soll diese in einem zweiten Schritt zur eigentlichen Kirche ausgebaut werden.   Die Kirche ist der Kern des Chaldäisch-Katholischen Kulturzentrums, das im Stadtteil Hovsjö auf einer Fläche von über 12.000 Quadratmetern errichtet werden soll. Auch ein chaldäisches Museum, eine Bibliothek und einen Musiksaal sind dort geplant. Das gesamte Projekt wird schätzungsweise über sechs Millionen Euro kosten.   Der Architekt Martin Elia ist stolz, dass die Gemeinde und das Bistum Stockholm ihn beauftragt haben, entsprechende Baupläne in mesopotamisch-etruskischem Stil zu entwerfen. Wie seine 33-jährige Frau Moreen, die er nach seiner Flucht in Stockholm kennen gelernt hat, ist der stämmige, 40-jährige Mann von einer tiefen Religiosität erfüllt. Mehrmals am Tag bekreuzigt er sich und betet – auf dem Weg zur Arbeit, bei Freunden und im Auto. „Ich bin davon überzeugt, dass es Gott gibt – er hat mir immer den richtigen Weg gezeigt.“   Elia stammt aus der nordirakischen Stadt Kirkuk. Auch wenn er nach seinem Studium in Bagdad ein gefragter Architekt gewesen sei, habe er sich in seiner Heimat nie wirklich sicher gefühlt. Vor acht Jahren gab er deshalb sein etabliertes Mittelschichtleben auf, um in Södertälje wieder ganz von vorne anzufangen.   „In den ersten Monaten habe ich in einer Schule für technisches Design als Praktikant gearbeitet“, erzählt er. Sich schnell zu integrieren, sei ihm wichtiger gewesen als ein gutes Gehalt. In seiner Freizeit verschönerte er zudem die Johanneskirche mit Glasmalereien und einer Marienstatue.   „Ich bin eine Kämpfernatur“, sagt Elia und lacht. Inzwischen arbeite er wieder erfolgreich als freier Architekt. So hat ihm Papst Johannes Paul II für sein Design der Kathedrale des Heiligen Herzens in Kirkuk eine Medaille verliehen.   „Ich bin froh, dass ich durch meine kreativen Ideen so viel Gutes bewirken kann - im Irak wäre ich wahrscheinlich erschossen worden“, betont Elia. Denn seit dem Sturz des Hussein-Regimes werden Christen als religiöse Minderheit vor allem in den nördlichen Gebieten bis nach Mossul und Kirkuk von Schiiten, Sunniten und Kurden gleichermaßen diskriminiert.   Nach Angaben des Auswärtigen Amts kommen bei Anschlägen und Feuergefechten im Irak monatlich immer noch mehrere hundert Menschen ums Leben. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) befürchtet deshalb einen Exodus. Schätzungen zufolge haben bereits drei Viertel von etwa 600.000 irakischen Christen ihre Heimat verlassen.   Als die Christen in Mossul ins Visier der islamischen Extremisten gerieten, war Valentina Rufued Augenzeugin. Sprengsätze explodierten in mehreren Gotteshäusern, so dass die junge Christin bei jedem Kirchenbesuch um ihr Leben fürchten musste. „Über ein Megafon wurden wir immer wieder aufgefordert, zum Islam zu konvertieren - andernfalls hatten wir die Wahl zu sterben oder das Land zu verlassen.“ Daraufhin seien allein aus Mossul über 230.000 Christen geflohen.   Wenn die 19-Jährige über ihre Erinnerungen an ihr Leben im Irak spricht, bekommt sie einen Kloß im Hals. „Ich werde nie wieder in meine Heimat zurückgehen“, schwört sie mit Tränen in den Augen. Ihr Vater sei im Irakkrieg sinnlos gestorben, ihre Mutter lebe mit ihrem neuen Lebensgefährten in Kanada.  Vor zweieinhalb Jahren ist Valentina allein zu ihrem Onkel nach Södertälje geflohen, ihrem einzigen Verwandten in Europa. Seitdem kommt sie dreimal pro Woche in die Kirche, um im Chor zu singen und mit ihren Freunden über Gott und die Welt zu sprechen. „Die Gemeinde ist jetzt meine Familie.“  An diesem Sonntag trägt sie die schwedischen Nationalfarben - ihr blaues Chorgewand und einen gelben Schal. „Hier fühle ich mich sicher“, sagt sie. Ihre braunen Augen sind immer noch feucht, als sie ihren Platz in der ersten Chorreihe einnimmt. Unwillkürlich schlägt ihre Hand ein Kreuz. Sie schaut auf das Kruzifix über dem Altar. „Die Kirche ist mein Leben“, sagt sie plötzlich. Inbrünstig kniet sie nieder und betet.  Monsignore Georg Austen, Generalsekretär des Bonifatiuswerkes der deutschen Katholiken, war nach seinem Besuch in Södertälje beeindruckt von der tiefen Religiosität und der schwierigen Situation der irakischen Christen. „Gerade die Kirche ist für viele Flüchtlinge ein Ort, an dem sie sich aufgenommen fühlen“, sagt er.  Die Verwurzelung im Glauben sei für die Chaldäer so stark, dass sie aus ihrer Heimat fliehen mussten. „Deshalb ist es besonders wichtig, dass sie in Schweden eine neue Heimat im Glauben finden.“  Mindestens ebenso wichtig sei es aber, an den Rahmenbedingungen für eine friedliche Zukunft im Irak mitzuarbeiten, „damit die katholischen Christen im Irak bleiben und dort in Freiheit ihren Glauben leben können“.  NICOLE SEROCKA
AUSZUG AUS MESOPOTAMIEN BONIFATIUSWERK 01/2009  Flucht ist für irakische Christen eine Sackgasse. Wer sein Land einmal verlassen hat, geht nicht mehr zurück – zu groß ist die Angst, von Extremisten getötet zu werden. Doch die Aussicht auf eine neue katholisch-chaldäische Kirche im schwedischen Exil gibt ihnen die Kraft, im Glauben eine zweite Heimat zu finden.