"Mein schönstes Gedicht? / Ich schrieb es nicht. / Aus tiefsten Tiefen stieg es. / Ich schwieg es." Mascha Kalèkos leichtfüßige Verse sind unverwechselbar: Wehmütig und heiter bringen sie das Wesentliche auf den Punkt. Morgen wäre die deutschsprachige Dichterin 100 Jahre alt geworden.   "Eins lässt sich nicht bestreiten: / Jede Sache hat zwei Seiten. / Die der anderen, das ist eine. / Und die richtige Seite: deine", schreibt Mascha Kalèko im Jerusalemer Exil. Ihre spöttische Selbstironie ist gleichrangig mit Erich Kästners wachem Sarkasmus – trotzdem ist sie lange nicht so bekannt. Die Literaturgeschichte hat Kalèkos leicht verständliche Gedichte jahrzehntelang nicht ernst genommen. Und ohne die Arbeit ihrer Nachlassverwalterin Gisela Zoch-Westphal könnte sich wohl heute kaum jemand Kalékos flüchtige Zeitungspoesie erinnern.  Es bedurfte erst eines Marcel Reich-Ranicki, um zu erkennen, dass sich hinter der  „scheinbaren Leichtigkeit“ ihrer zahllosen Verse „eine tiefere Bedeutungsebene“ verbirgt“.  Mascha Kaléko gab allerdings auch nur wenig über ihr Leben preis: Sie verschwieg ihre ostjüdische Herkunft, macht sich fünf Jahre jünger und beantwortete Fragen zu ihrem Leben stets in Gedichtform: "Anstatt der üblichen Statistik / gönnt der Autorin etwas Mystik! / Die ganz privaten Lebensdaten / wird euch ihr Grabstein einst verraten. / Doch mögt ihr, wollt ihr sie beschenken, / am siebten Juni an sie denken."  Zum morgigen 100. Geburtstag der Dichterin ist jetzt die erste Kaléko-Biografie mit unveröffentlichten Briefen, Tagebuchnotizen, Fotos und Gedichten erschienen. Die Berliner Autorin Jutta Rosenkranz hat umfangreich recherchiert, ihre behutsamen Schilderungen in den ersten beiden Kapiteln über Kalékos Kindheit im galizischen Chrzanów und ihre literarische Blütezeit in Berlin beschränken sich jedoch sehr auf das peotische Werk.  Am 7. Juni 1907 wird die "dunkelhaarige Dichterin mit den lebhaften Augen" als Golda Malka Aufen als Kind eines Russen und einer Österreicherin im heutigen Südpolen geboren. In Berlin, wo sie 1918 eine Bürolehre beginnt, fühlt sie sich sofort heimisch. Im Romanischen Café trifft sie sich regelmäßig mit ihren Schriftstellerkollegen Erich Kästner, Joachim Ringelnatz und Kurt Tucholsky.   Mit 21 Jahren heiratet sie den russischen Philologen Saul Kaléko und schreibt Alltagsgedichte über ihr Leben in der Großstadt: "Wir wachten auf, die Sonne schien nur spärlich / durch scmale Ritzen grauer Jalousien. / Du gähntest tief und ich gestehe ehrlich: / Es klang nicht schön. – Mir schien es jetzt erklärlich, / daß Eheleute nicht in Liebe glühn."  1929 erschienen ihre Gedichte erstmals in Zeitschriften und Tageszeitungen, die meisten im Berliner Dialekt, wie Eene Schwalbe und Mariechen schreibt. 1933 veröffentlicht der Rohwolt-Verlag Das lyrische Stenogrammheft, das eine Auflage von 100.000 Exemplaren erreicht, weil Kalékos Leser sie lieben. Ihr erster Band ist mit Verse für Zeitgenossen und In meinen Träumen läutet es Sturm das Zentrum ihres poetischen Werks.   Zwei Jahre später darf Kaléko als Jüdin in Deutschland nicht mehr publizieren. Bevor sie emigriert, verliebt sie sich in den jüdischen Komponisten Chemjo Vinaver, wird schwanger und führt ein Doppelleben. Erst als ihr 1936 geborener Sohn Avitar beinahe ein Jahr alt ist, lässt sie sich scheiden und heiratet Chemjo, "die Liebe ihres Lebens".   In den letzten beiden Kapiteln beschreibt Jutta Rosenkranz die Exil-Jahre in New York und Jerusalem, wo Kaléko seit 1959 lebte. In New York versucht die Dichterin vergeblich gegen ihre Sehnsucht nach der verlorenen Heimat anzukämpfen. Denn die Nationalsozialisten haben Kalékos Vaterlandsgefühle tief verletzt.   Trotug schreibt sie: "Zur Heimat erkor ich mir die Liebe" und bleibt unversöhnlich. 1959 lehnt sie den Fontane-Preis ab, als sie erfährt, dass einer der Jury-Mitlgiieder bei der SS gewesen ist. Danach wird sie nie wieder für einen Preis nominiert.   Auch in Jerusalem kann sie ihre Entwurzelung nicht verwinden. Zwei Schicksalsschläge zerstören schließlich ihren Lebenswillen: 1968 stirbt ihr Sohn, 1973 ihr Mann.  "Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang, / nur vor dem Tode derer, die mir nahe sind. / Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?" Mascha Kaléko stribt am 21. Januar 1975 mit 67 Jahren in Zürich und hinterlässt rund 500 Gedichte und Epigramme, die sie unsterblich machen: "Ich werde still sein, doch mein Lied geht weiter."  NICOLE SEROCKA
"MEIN LIED GEHT WEITER" KIELER NACHRICHTEN 06/2007  Präsize Alltags- beobachterin und Großstadtdichterin: Mascha Kaléko  zum 100. Geburtstag.