Alf Zimmer ahnte nicht, dass er einen lebensgefährlichen Beruf ausübt. Rektor der Universität Regensburg – das klingt nach gelehrtem Austausch an beschaulicher Stätte und nicht nach tödlicher Bedrohung.  Doch eines Mittags wäre es beinahe um ihn geschehen. Als der Rektor das Gebäude der Philosophischen Fakultäten passierte, sah er sich aus heiterem Himmel attackiert. Ein dicker Brocken löste sich aus der Betonfassade und krachte auf den Bauzaun neben seinem Kopf. „Das war ganz schön knapp“, sagt der 64-Jährige.  Fünf Jahre ist es her, dass Zimmer mit dem Leben davonkam, doch die Fassade ist immer noch marode. „Für eine Sanierung fehlt uns das Geld“, sagt Zimmer.   Ein Drahtgitter vor der Fassade, wie es sonst an Gebirgsstraßen gegen Steinschlag gespannt wird, soll wenigstens das Schlimmste verhindern: dass dem Rektor und seinen Studenten die eigene Uni auf den Kopf fällt.  Der Alltag an vielen deutschen Hochschulen bietet heutzutage ganz neue Herausforderungen. Studenten und Dozenten müssen sich gegen Schimmel, Rost und Risse beweisen. In maroden Gebäuden kämpfen sie damit, dass es tropft, bröckelt und zieht. Die berühmten Worte, mit denen der verstorbene SPD-Politiker Peter Glotz sein Buch über das deutsche Hochschulsystem titelte, haben eine neue Bedeutung gewonnen: Manche Universität ist tatsächlich im Kern verrottet.  Viele Hochschulen sind in so schlechtem Zustand, dass die Sanierung Milliarden Euro kosten würde. Allein Nordrhein-Westfalen müsste nach Berechnungen seines Wissenschaftsministeriums mindestens fünf Milliarden aufwenden, in Baden-Württemberg beliefen sich Schätzungen auf mehr als drei Milliarden Euro. Hamburg will auf die teuren Reparaturen möglicherweise sogar komplett verzichten, es wird überlegt, die Uni gar nicht zu sanieren, sondern an anderer Stelle ganz neu zu bauen.  Rund 60 Milliarden Euro haben Bund und Länder seit 1970 in den Hochschulbau investiert. Das klingt gewaltig. Politiker aber schmückten sich lieber mit neuen Lehrstühlen und scherten sich nicht um die alten Hörsaal-Klappstühle – so dass diese nun abbrechen.  Im Zweifel wurde in Köpfe statt in Gebäude investiert, in der Finanznot war Forschung wichtiger als Sanierung. Zuletzt sorgte die Exzellenzinitiative für Wirbel. Manche Hochschulen dürfen sich nun als Elite-Unis fühlen, die Initiative belohnte herausragende Forschungsleistungen mit 1,9 Milliarden Euro. Doch in all dem Rummel geht unter, dass viele Universitäten große Alltagssorgen drücken. Ein Uni-Chef hat dies in einem Stoßseufzer zusammengefasst: „Exzellenz braucht dichte Dächer.“  An der traditionsreichen Humboldt-Universität zu Berlin aber ist nicht einmal das Hauptgebäude ganz dicht. Vom Boulevard Unter den Linden betrachtet, wo Alexander und Wilhelm von Humboldt in Stein gehauen thronen, sieht der Bau prächtig und proper aus. Bereits im Hof aber bietet sich ein anderes Bild. Die Fassade ist schon lange nicht mehr gestrichen worden, das Dach undicht. An dem Gebäudeflügel, in dem einst Albert Einstein seine Relativitätstheorie vortrug, bröckelt der Putz.   300 Gebäude umfasst die Universität, das älteste stammt aus dem 18. Jahrhundert. In diesem Jahr stehen 15,6 Millionen Euro für den Erhalt der Bauten zur Verfügung.   Der Technische Leiter hat einmal zusammengerechnet, wie viel Geld er eigentlich bräuchte, um alles instand zu setzen. Summa summarum kommt er auf 251 981563 Euro – eine Viertelmilliarde Euro also für eine einzige Universität.  Das klingt nach unglaublich viel, doch es geht noch schlimmer. „Wir haben einen Sanierungsstau von 460 Millionen Euro“, meldet ein Sprecher der Universität Tübingen. Die Mitarbeiter des Botanischen Instituts etwa harren noch immer in ihrem alten Betonbau aus. Um ihre Überlebenschancen zu erhöhen, wurde ein Gerüst vor das Gebäude gebaut – anders waren die Brandschutzbestimmungen nicht einzuhalten.   Für die Ruhr-Universität in Bochum werden die Sanierungskosten gar auf eine Milliarde Euro geschätzt. Der riesige Betonkomplex ist völlig hinüber. Wände und Flachdächer sind so marode, dass es in vielen Gebäuden feucht und schwül ist. Die Studenten der Ostasienwissenschaft dürfen sich an das tropische Klima der Länder erinnert fühlen, die sie erforschen. Schimmel hat Hunderte Bücher überzogen. Dozenten aus Physik und Biologie spannen schon mal Schirme auf, damit sie beim Bücherstudium trocken bleiben – wie „Der arme Poet“, den Carl Spitzweg auf seinem berühmten Gemälde verewigte.  „Das Geld reichte immer nur, um ein bisschen Flickschusterei zu betreiben“, sagt Karl-Heinz Schloßer, Chef der „Task Force Campus-Sanierung“. Wenn der Leitende Verwaltungsdirektor, der schon 1967 als Student an die Ruhr-Universität kam, über den Campus geht, kommt bei ihm „schon ab und zu“ die Wut hoch. Wackelnde Fußbodenplatten, bröckelnde Betontreppen und rissige Fassaden erinnern dann an den Sparkurs, den das Land Nordrhein-Westfalen bei der Instandhaltung lange fuhr. Seit Gründung der Uni sei, so Schloßer, nicht einmal halb so viel investiert worden wie versprochen. In den nächsten Jahren soll endlich eine Kernsanierung der meisten Gebäude erfolgen.   Gerade Nordrhein-Westfalen plagt sich mit einem gewaltigen Sanierungsstau. In den sechziger und siebziger Jahren wurden an Rhein und Ruhr die Universitäten stark erweitert oder gleich neue gegründet. „In keiner Epoche der Architektur wurden so anfällige Häuser gebaut“, klagt Bauingenieur-Professor Friedhelm Stangenberg, der über die Verlängerung der Lebensdauer von Gebäuden forscht.  Nordrhein-westfälische Studentenvertreter haben einen Fotowettbewerb angekündigt, wollen auf einer Website die Zustände dokumentieren (www.marodehochschule.de). „Wir studieren hier in echten Bruchbuden, es tropft durch die Decken, im Winter ist es eiskalt und zieht wie Hechtsuppe“, klagt Patrick Schnepper vom Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) in Köln. „Zwischen Mauerwerk und Fensterrahmen klaffen dicke Spalten, die Scheiben sind blind, weil die Doppelverglasungen undicht sind.“ Und in einem Hörsaal der humanwissenschaftlichen Fakultät schützt ein Netz die Studenten vor herabstürzenden Lampen.  Als Schnepper kürzlich im Trakt der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften war, passte er einen Augenblick lang nicht auf und stolperte prompt über einen Eimer vor dem Hörsaal. Den hatten nicht Putzfrauen vergessen, sondern Uni-Mitarbeiter aufgestellt – damit das Wasser von der Decke nicht auf den Boden tropfte.   An der Kölner Fachhochschule wurde ein ähnliches Problem immerhin ohne Stolpergefahr für die Studenten gelöst. In einem Labor hängt eine Regenrinne innen an der Wand, in dieser Woche soll das Problem nun endlich dauerhaft behoben werden.  Unter solchen Zuständen leiden viele Studenten in der angeblichen „Bildungsrepublik Deutschland“, die Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich ausrief. In Hamburg hat der AStA-Vorsitzende Benjamin Gildemeister mittlerweile Erfahrung als Reiseleiter durch die Realität. Der 23-Jährige führt Politiker, Bildungsexperten und Journalisten zu brüchigen Fenstern, vergilbten Wänden und vergammelten Vorhängen – und gern auch zu den Toiletten des Instituts für Bodenkunde. Von oben sickert Wasser durch, von unten stinkt es nach Urin.  Der Studentenvertreter bringt alle Interessenten zu den Schreckensorten auf dem Campus, die zuletzt die Hamburger Wissenschaftssenatorin Herlind Gundelach (CDU) besichtigte. Sie hält Investitionen von 500 Millionen Euro für erforderlich. Vermutlich müssen rund drei Viertel der 220 000 Quadratmeter Nutzungsfläche saniert werden.   Der Hamburger Senat sucht derzeit nach einer Lösung. Unter vier Modellen findet sich eine spektakuläre Idee: die gesamte Universität in der Hafen-City neu zu bauen. Der bisherige Standort würde aufgegeben, der Campus zu einem vermutlich hohen Preis verkauft. Die Entscheidung soll spätestens im nächsten Frühjahr fallen.  Die Idee ähnelt einem ehrgeizigen Projekt in Frankfurt am Main. Dort wird nicht die ganze Uni neu gebaut, aber doch ein wesentlicher Teil. Im Westend entstehen unter anderem ein Hörsaalzentrum mit 15 Räumen, ein großes „House of Finance“ für Aus- und Weiterbildung sowie ein Neubau für die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. Die Gesamtkosten der Frankfurter Uni-Erneuerung werden auf eine Milliarde Euro geschätzt.  Wie viel Geld nötig wäre, damit die mehr als 350 Hochschulen in Deutschland wieder tipptopp sind, kann niemand sagen. Jahrzehntelang war der Hochschulbau eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern. In der Föderalismusreform haben sich die Länder dieses Feld gesichert, seitdem fehlt eine bundesweite Übersicht über ihre Investitionen. „Es kann schon keiner sagen, wie viel insgesamt ausgegeben wird“, sagt der Generalsekretär des Wissenschaftsrats, Wedig von Heyden. Er fürchtet vor allem um die teure Universitätsmedizin, die immer rund ein Drittel des Budgets verschlungen habe. Heyden hat „große Sorgen, dass manche Länder nicht zu einer ausreichenden Finanzierung in der Lage sind“.  Selbst in den reichen Bundesländern ist die Lage nicht unbedingt rosig. Hessen will mit drei Milliarden Euro auf den neuesten Stand, in Bayern beschwerten sich die Universitätschefs vor fünf Jahren in einer geharnischten Resolution, in der es heißt:  „Seit Jahren entwickeln sich die staatlichen Mittel für Bauunterhalt und Reinvestitionen so defizitär, dass die Substanz der Gebäude, der Einrichtung und der Geräte vielfach verkommt.“  Mitgetragen hat diese Resolution der Mann, der den Zustand aus eigener Anschauung besser kennt, als ihm lieb ist. Rektor Zimmer, der beinahe Opfer seiner maroden Universität geworden wäre, schätzt den Sanierungsbedarf allein in Regensburg auf bis zu 500 Millionen. Dass sich die Lage an den deutschen Hochschulen schnell bessert, glaubt er nicht. „Selbst wenn man das Geld hätte, wäre kurzfristig nichts zu machen“, sagt Zimmer, „so viele Baufirmen und Bauarbeiter gibt es gar nicht.“  SIMONE KAISER, GUIDO KLEINHUBBERT, BARBARA SCHMID, NICOLE SEROCKA, MICHAEL SONTHEIMER, MARKUS VERBEET
IM KERN VERROTTET DER SPIEGEL NR. 29/2008  Viele Hochschulen sind in schlimmem Zustand. In den Gebäuden tropft, zieht und bröckelt es – und die Sanierung kostet Milliarden. Hamburg erwägt nun, seine Universität gleich ganz neu zu bauen.