Alle warten – Männer, Frauen, Kinder. Manchmal drei Stunden, manchmal einen halben Tag. Einzeln werden sie aufgerufen, gehen durch die Gitterkreuze und müssen ihre Taschen aufs Röntgenband legen. Wenn der Metalldetektor anschlägt, befiehlt ihnen ein bewaffneter Wachmann, ihre Schuhe und Gürtel auszuziehen. Verschleierte Frauen müssen ihr Gesicht enthüllen und ihre Kleidung bis auf die Unterwäsche ablegen, um zu beweisen, dass sie keine Waffe oder Bombe unter ihren Röcken tragen.  „Das ist absolut inakzeptabel“, findet Ismail Kabha, der bereits seit zwei Stunden vor dem Checkpoint Reikhan nordwestlich des Westjordanlands wartet. Der 43-jährige Palästinenser ist fast täglich hier, denn er handelt mit Obst und Gemüse, das er in der Region um Ost-Barta’a anbaut und im 30 Kilometer entfernten Dschenin verkauft.   Ohne Checkpoint bräuchte er pro Fahrt eine halbe Stunde. „Ich wünschte, die israelischen Soldaten kämen zurück. Die haben uns wenigstens einigermaßen mit Respekt behandelt“, sagt Kabha und erzählt, dass ein privates Sicherheitsunternehmen der Israelis diesen Checkpoint vor einigen Wochen übernommen habe.   Ein paar Kilometer weiter nördlich liegt die Stadt Rehan mit rund 62600 Einwohnern. Sie ist eine von vier jüdischen Siedlungen im Wadi Ara, einem Tal westlich des Amir Gebirges. Von dort hat man einen guten Blick auf die 413 Kilometer lange Sperranlage, die sich wie ein Tausendfüssler durch die raue Landschaft windet und das Westjordanland vom israelischen Kernland abgrenzt.  Der Bau wurde 2003 unter Ariel Scharon begonnen, um die Israelis vor palästinensischen Selbstmordattentaten zu schützen. 58 Prozent des insgesamt 712 Kilometer langen „Terrorabwehrzauns“, wie ihn die Israelis nennen, sind bereits gebaut. Die Palästinenser sprechen hingegen von einer „Apartheidmauer“.  Beide Sichtweisen sind Realität: Ein Großteil der Sperranlage besteht aus einem etwa zwei Meter hohen Metallzaun, der mit Stacheldraht, Infrarotkameras und Bewegungsmeldern gesichert ist und bei Berührung sofort im nächst gelegenen Grenzposten einen Alarm auslöst. Der Sandstreifen entlang des Zauns ist glatt geharkt, um Fußabdrücke erkennen zu können. Parallel zum Zaun verläuft zusätzlich ein geteerter Patrouillenweg, der zu beiden Seiten in ein insgesamt 70 Meter breites militärisches Sperrgebiet übergeht. In der Nähe von Qalqiliya und Jerusalem, wo diese Breite nicht eingehalten werden kann, haben die Israelis eine acht Meter hohe Mauer aus Stahlbeton errichtet.   Kabha ist genervt von der „langwierigen, willkürlichen Prozedur“ am Checkpoint Reikhan. „Ich bin mit dem Wagen meines Onkels auf der neuen 611 über Rehan hierher gekommen“, erzählt Kabha. Checkpoints seien ohne Ortkenntnisse meist schwer zu finden, da sie nicht ausgeschildert seien. „Touristen sind häufig enttäuscht, weil es hier keine Wegweiser gibt wie ‚Sie verlassen jetzt Israel’ oder ‚Willkommen im besetzten Westjordanland’.“   Doch die Beschilderung macht Kabha keine Sorgen. Ihn belastet vor allem der umstrittene Verlauf des Metallzauns, der meist nicht auf der Waffenstillstandslinie zwischen Israel und Jordanien errichtet wurde.  UN-Angaben zufolge liegen nur 20 Prozent der Sperranlage auf der „Grünen Linie“ von 1949. Im Wadi Ara schneidet der Zaun hingegen eine tiefe Schlaufe in das palästinensische Autonomiegebiet. Denn die jüdischen Siedlungen Rehan, Schaked, Tel Menasche und Henanit gehören aus israelischer Sicht vor den Zaun. Kabha und mehr als 5000 andere Palästinenser, die in dieser Gebietsschlaufe zwischen den jüdischen Siedlungen leben, werden somit durch die „Grüne Linie“ von Israel und durch den Grenzzaun vom Westjordanland abgeschnitten. Als Palästinenser dürfen sie beide Grenzen nicht ohne Genehmigung der israelischen Behörden überschreiten.  „Ich bin ein Grenzgänger, der in einem Käfig lebt“, sagt Kabha. UN-Angaben zufolge beträgt die Anzahl der Checkpoints im Westjordanland inzwischen 540. „Manchmal werden Checkpoints vorübergehend geschlossen, so dass ich Umwege über andere Checkpoints in Kauf nehmen muss“, klagt Kabha.   Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und des freien Warenverkehrs in den besetzten Gebieten sind laut Amnesty International nach wie vor die Hauptursachen für die hohe Arbeitslosigkeit der Palästinenser, die in im Westjordanland zurzeit 26,3 Prozent beträgt. Fast die Hälfte der 2,9 Millionen Einwohner (inklusive Ost-Jerusalem) lebt unterhalb der Armutsgrenze.   „Ich verdiene etwa 17 Dollar netto pro Tag“, erzählt Kabha, bevor er in seinen Wagen steigt. In ein paar Minuten darf er endlich die Grenze passieren. Er ist froh, dass er die Kontrollen für heute erst mal hinter sich gebracht hat.   Was bleibt, ist die Angst, dass eins seiner drei Kinder nachts ernsthaft krank werden könnte. Denn der Weg von Ost-Barta’a zur nächsten Klinik führt ausschließlich über den Checkpoint Reikhan, der zwischen 21 Uhr und 5.30 Uhr für Palästinenser geschlossen ist.  NICOLE SEROCKA
GRENZGÄNGER IN EINEM KÄFIG Vom Alltag mit Israels „Terrorabwehrzaun“ KIELER NACHRICHTEN 07/2007  Nach dem blutigen Putsch der radikal-islamischen Hamas im Gazastreifen und dem Zusammenbruch der Einheitsregierung in Ramallah ist der palästinensische Traum von einem eigenen Staat in weite Ferne gerückt. Denn die politische Landkarte Palästinas teilt sich seitdem in ein „Hamastan“ und ein „Fatahland“. Israels Premier Ehud Olmert will die Hamas am Mittelmeer isolieren und mit der Fatah im Westjordanland kooperieren.